Book Review: Bürokratische Bewältigung: Entschädigung für nationalsozialistische Verfolgte im Regierungsbezirk Münster

Bürokratische Bewältigung: Entschädigung für Nationalsozialistische Verfolgte im Regierungsbezirk Münster, Klartext Verlag Essen, 2012
Julia Volmer-Naumann
Reviewed by Christian Grieb, University College London 

Nach dem Lesen der über 500-seitigen Studie zur Entschädigungspraxis für NSVerfolgte im Regierungsbezirk Münster zwischen 1945 und 1968 ist klar, warum Julia Volmer-Naumann als Titel, Bürokratische Bewältigung“ wählte. Die Autorin untersucht sowohl die individuellen Notlagen, die materiellen und finanziellen Zwänge, denen behördliche Antragsbewältigung unterlag, als auch die rechtliche Umsetzung. Nachdem Notlagen und die beschränkten Möglichkeiten der frühen Fürsorge- und Sozialmaßnahmen geschildert wurden, unternimmt es die Autorin, die zunehmend politischen und rechtlichen Aspekte der immer weiter verbürokratisierten Entschädigungspolitik zu untersuchen. Der zeitliche Rahmen umspannt die Arbeit der deutschen Ämter und britischen Besatzungspolitik der Nachkriegsphase, die in der Milderung der Notlagen ihren Tätigkeitsschwerpunkt sahen, bis hin zur bundesrepublikanischen Schlussstrichpolitik, die sich aus selbst auferlegten politischen und rechtlichen Zwängen ergab. Während der deutschen Verwaltungspraxis eine Fürsorge- oder Beihilfefunktion nicht unbekannt war, tat man sich mit der Anerkennung einer Wiedergutmachungsfunktion zunehmend schwerer. Das belegen Einzelfälle, die die Autorin umfangreich konsultiert hat und zur Substantiierung ihrer Kritiken an der deutschen Wiedergutmachungspraxis bespricht. Während die Opfer des NS-Unrechts in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch auf großzügige Ermessensentscheidungen vertrauen konnten, entwickelten sich Antragsverfahren in späteren Entschädigungsverfahren zunehmend zu einer Verrechtlichung des historischen Unrechts. Die konsequente Herausarbeitung und Unterlegung dieser zunehmend auf das Recht delegierten und marginalisierenden Vergangenheitsbewältigung ohne Schuldfaktor stellt den wissenschaftlichen Wert dieser Studie dar.

In den Aktenstudien zur Wiedergutmachungspraxis in den deutschen Ämtern des Regierungsbezirks Münster zeigt die Autorin, dass die deutsche Geschichte der Entschädigungspraxis insgesamt eine Geschichte der Vermeidung der gesellschaftlichen Konfrontation mit der Vergangenheit war, die sich zunehmend auf eine Leistungsverwaltung reduzierte. Zu dem Schluss gelangt sie aber vor allem aus dem Studium der Akten als Resultat der Anwendung des Rechts, also der Ergebnisse, zu denen die Verwaltungsbeamten kamen. Die jedoch jedem Verwaltungsverfahren gegebenen Ermessensspielräume fanden keine ausreichende Berücksichtigung in dieser Studie, da viele der Einzelfälle aus der Perspektive der Antragsteller diskutiert sind. Es wäre wünschenswert gewesen, diese Resultate der Verwaltungsarbeit durch Studien der Personalstruktur in den Ämtern zu komplementieren. Inzwischen liegen umfangreiche Untersuchungen zur fehlenden Vergangenheitsbewältigung in der Justiz, der öffentlichen Verwaltung und Politik gerade für die Zeit zwischen 1945 und 1968 vor. In ihrer abschließenden Gesamteinschätzung kommt die Autorin zu dem Schluss, dass es insgesamt in der Antragsbewältigung doch fair zuging, was zumindest unterschwellig indiziert, dass sich die Autorin der Motivationsaspekte seitens der Verwaltungsbeamten bewusst war. Die umfangreichen Quellenstudien belegen, dass das ursprüngliche Ziel der Entschädigungspraxis als wesentlichem Bestandteil der von der britischen Besatzungsmacht 1945/46 initiierten Entnazifizierungs- und Demokratisierungspolitik in der Bundesrepublik nicht erreicht wurde. Vielmehr wurde eine bezweckte gesellschaftliche Vergangenheitsbewältigung mit zunehmender Verbürokratisierung aus dem öffentlich Bewusstsein verdrängt.

Die zonenpolitische Anweisung Nr. 20 der britischen Militärregierung legte einen Fürsorgeauftrag der deutschen Gemeinden für ehemals politisch, rassisch oder religiös Verfolgte fest. Die vom NS-Staat deklarierten “Asozialen“ oder Berufsverbrecher“ sowie Euthanasiegeschädigte, die erst durch die NS-rechtliche Kategorisierung des Menschen zum Opfer im NS-Staat wurden, blieben aber sowohl unter zonenpolitischen Antragsbewältigung keine einhergehende Vergangenheitsbewältigung von der Gesellschaft abverlangte. Die von Volmer-Naumann analysierten Einzelschicksale und die Studien der rechtlichen Rahmenbedingungen belegen, dass diese beschränkte Aktenbewältigung zunächst die einzige gesellschaftliche Antwort auf begangenes Unrecht blieb.
Zwar wurde ab 1947 der Berechtigtenkreis durch landesgesetzliche Regelungen zur Unfall- und Hinterbliebenenrente im März 1947 in Nordrhein-Westfalen und bundesweit 1949 erweitert. Nach dem Erlass des ersten Bundesentschädigungsgesetzes 1952 verstanden sich die Deutschen aber immer mehr als Verwalter ihrer eigenen Entschädigungsregeln. Das eindeutige Postulat der Autorin ist hier, dass die eigentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus der öffentlichen Antwort auf das Unrecht entfernt wird, indem man nicht das Unrecht anerkennt, sondern Einzelfälle mehr oder weniger als Sozialhilfefälle aktenweise abarbeitet und gemäß den renten- und sozialrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen prüft.

In den folgenden Kapiteln untersucht Volmer-Naumann das Zustandekommen des BundesentschädigungsG (BEG) und des BundesergänzungsG zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ (BErgG) von 1952 und 1953. Sie erarbeitet, wie diese Regelungen erst auf internationalen Druck hin auf den Weg gebracht wurden. In einem Prozess, den man als Politisierung der moralischen Verantwortung bezeichnen könnte, wurden schließlich auch bundeseinheitlich geltende Entschädigungsverpflichtungen erlassen. Dazu gehörten vor allem Regelungen, die als Antwort zur geplanten Westintegration Westdeutschlands Formen annahmen oder den Deutschen im Zuge der Umsetzung internationaler Verpflichtungsabkommen, wie z.B. dem Haager Abkommen zum Lastenausgleich oder dem selbstverpflichtenden DeutschIsraelischen Globalabkommen vom 10. September 1952, abgerungen wurden. In den weiteren untersuchten Entwicklungen der 1950er und 1960er Jahre wird klar erkennbar, dass sich die Bundesregierungen auf den Vollzug dieser Lastenausgleichsregelungen konzentrierten. Das in diesem Zuge erlassene Erste Bundesentschädigungsgesetz von 1952 löste die bisherigen Fürsorge-, Soforthilfe-, Sachgeschädigten-, Kriegsgeschädigten- un Währungsgeschädigtenregelungen ab. Wie die Autorin in den Analysen der Auswirkungen für bestimmte Verfolgtengruppen nachweist, wurde die Wiedergutmachungspraxis damit weiter ausgedünnt und verrechtlicht, mit dem Resultat, dass post-facto (also post-Unrecht) deutsche Gesetze Schadenstatbestände definierten, und daraus – und nicht aus der Geschichte – die zu entschädigenden Personengruppen definiert wurden. Die restriktive Bindung von Anspruchberechtigung an rassisch, religiös oder politisch indizierte NS-Gewaltmaßnahmen, wie sie zunächst von den britischen Besatzern eingeführt worden war, wurde beibehalten. Damit blieben die bereits in den Zonen- und Landesgesetzen ausgegrenzten Geschädigten weiterhin als nicht, entschädigungswürdig“ gestellt, gleichwohl sie erlittene Schäden an Leben, Gesundheit, Körper, Freiheit, Eigentum und Vermögen belegen konnten. Es galt das Prinzip Entschädigung vor Fürsorge. Da aber diese Ansprüche im Gesetz auch aus haushaltspolitischen Erwägungen legaldefiniert und Höchstsätzen unterworfen wurden, konnte man umfangreiche Feststellungen zivilrechtlicher Ansprüche auf vollen Schadensersatz vermeiden. Die Untersuchungen machen deutlich, wie mit der Delegierung der Feststellung der Opfereigenschaft auf den Verwaltungsbeamten der im Nachkriegsdeutschland fehlenden strafrechtlichen und justiziellen Aufarbeitung individuell erfahrenen Unrechts auch im Verwaltungsrecht verankerte Rechtfertigungen für die Nichtaufarbeitung zur Seite gestellt wurden. Gesetzesänderungen führten regelmäßig zu weiteren Einschränkungen des Kreises der Anspruchsberechtigten. Die Autorin arbeitet heraus, welchen Einfluss diese Änderungen auf bestimmte Antragstellergruppen hatten, wobei insbesondere das 1956 eingeführte Territorialprinzip dazu führte, dass Anträge Jener, die erst nach dem 31.12.1937 durch Deportation, Arbeitsverpflichtung von Ausländern und Zwangsarbeit im NS-Staat verschleppt und geschädigt wurden, nun einem „numerus clausus“ bundesrechtlich definierter Verfolgungsgründe unterworfen wurden. Das historisch Tragische sind dabei nicht vereitelte Entschädigungen, sondern der Fakt, dass dadurch zugleich die Anerkennung des historischen Unrechts (für Einige bis zur Anerkennung der Zwangsarbeiter als Opfer in 2001) versagt wurde. Mit dem Vollzug der BEG-Novelle von 1965, dem sog. Schlussgesetz, wurde dann in der Münsteraner Ministerialbürokratie auch der rechtliche Schlussstrich unter Entschädigungsansprüche gezogen. Die Autorin dokumentiert überzeugend, wie die Geschichte der deutschen Wiedergutmachungsbürokratie für die Politiker eine von Lobbygruppen und Opferverbänden eingeforderte und von internationalen Zwängen auferlegte Responsebürokratie und keine von der Bürokratie implementierte Überzeugungstat der deutschen Gesellschaft war. Vor allem die Aktenbesprechungen aus den Jahren nach der Einführung eines bundeseinheitlichen Entschädigungsrechts im Jahre 1953 offenbaren, wie die Bearbeitung von derart verrechtlichten Ansprüchen für Beamte lediglich ein Job, eine Tätigkeit zum “Geld verdienen“ war.

Nachdem Betroffene vor allem in den späten 1960er Jahren den Rechtsweg bestritten, übte die bundesgerichtliche Sozialrechtsprechung in den 1970er Jahren weiteren politischen Druck aus. Allerdings führte das zu weiterer Verbürokratisierung des Wiedergutmachungsauftrages. Die Autorin widmet dieser Phase ein umfangreich recherchiertes Kapitel („Hinter dem Schreibtisch“). Es wird deutlich, wie sich die Nachkriegsgesellschaft immer mehr zu einer Gesellschaft entwickelte, die sich über Formulare an der Vergangenheit abarbeitete, und in der zwar Rechtsverordnungen der neuen Rechtsprechung angepasst wurden, sich aber Ansprüche zu reinen Legalansprüchen entwickeln konnten. Ergebnis war, dass für dessen Auslegung moralische oder historische Verantwortlichkeiten immer mehr an Bedeutung verloren. Anerkanntes Unrecht wurde auf Aktenzeichen reduziert und diese Akten wurden verwaltet, während sich die darin enthaltene Unrechtsaufarbeitung auf verwaltungsbehördliche Auslegungen von Legaldefinitionen beschränkte.

Volmer-Naumann liefert eine weitere Fallstudie zum Paradox des Unrechts im geschriebenen Recht und einen Beweis dafür, dass selbst rechtmäßig vollzogenes Recht nicht mit Gerechtigkeit gleichzusetzen ist. Politik und Gesellschaft konnten sich hinter, geltendem Recht’ verschanzen, um einer konfrontierenden und unbequemen historischen Aufarbeitung aus dem Weg gehen zu können. Die hier dokumentierte rein verwaltungstechnische Aufarbeitung von Unrecht zeigt, wie historische Verantwortung durch rechtliche Entschädigungspflichten ersetzt wurde und half, dringend notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit zu verschleppen, ohne sich dem Vorwurf des untätigen Rechtsstaates aussetzen zu müssen. Im Fazit ist daher der Autorin uneingeschränkt Recht zu geben, wenn sie gerade diese Vermeidungstaktik anprangert. Ihre größte Kritik gilt der Abwesenheit einer die Opfer einbeziehenden Beurteilung des Unrechts und dem Prinzip “Fürsorge und Pauschalentschädigung vor Schadensersatz.”

Wie diese Versäumnisse der vermiedenen Vergangenheitsbewältigung Vorschub leisten konnten, hätte jedoch konkreter herausgearbeitet werden können. Ohne dies vorher diskutiert zu haben gibt die Autorin lediglich in der Schlussbetrachtung zu bedenken, dass täterbezogene Ermittlungen nicht stattfanden und Täter in den von der Verwaltung durchgeführten “Unrechtsverfahren“ weder in Erscheinung treten noch sich einem Verschuldensvorwurf oder allg. Schuldvorwurf* stellen mussten. Gleichwohl dieser Erkenntnis zuzustimmen ist, hätte das konsultierte Quellenmaterial genutzt werden können, die Abwälzung der rechtlichen Bringschuld auf die Opfer besser herauszustellen. Zumal im Rahmen einzelner Aktenbesprechungen das Verwaltungsverfahren Gegenstand der analysierten Entschädigungsansprüche war, hätte die kritisierte Abwälzungstaktik besonders anhand jener Fälle herausgearbeitet werden können, in denen die Autorin das Martyrium der Geltendmachung in demütigenden und diskriminierenden Formularverhören darstellt. Zutreffend weist Volmer-Naumann jedoch darauf hin, dass mit der Festlegung von Höchstsätzen individuelles Unrecht in Zahlen des Entschädigungsverfahrens verwaltet und verallgemeinert wurde. Damit war auch nicht nur die Abwälzung der Zahlungen auf die Anonymität der deutschen Gesellschaft delegiert, sondern konnte die Entschädigungspraxis von der persönlichen Wahrnehmung der Täter losgelöst und zum Zwecke neuer politischer Interessen instrumentalisiert werden.

Mit dieser einzelfallbezogenen Studie der von den Deutschen selbst geschaffenen rechtlichen Verweigerungsoptionen nennt Volmer-Naumann die verwaltungstechnischen Missstände deutscher Vergangenheitsbewältigung beim Namen. Die Autorin zeigt durch die Analyse der durch die deutsche Bürokratie (wieder einmal) selbst dokumentierten Verwaltungs- und Rechtspraxis, wie schwer sich Nachkriegsdeutschland mit einer Verantwortung für konkret vom Opfer benanntes Unrecht und mit einer direkten Auseinandersetzung mit den Opfergruppen tat. Akten konnten Gesichter der Konfrontation und die verwaltungsrechtlichen Beweislastumkehrprozesse die schuldbelasteten Täteranklagen ersetzen. Obgleich damit letztlich doch eine Anerkennung als Tätergesellschaft durch die Deutschen selbst erfolgte, wurde damit nicht Vergangenheit bewältigt, sondern wurden Entschädigungsansprüche zunächst rein legal begründet, um sie bürokratisch organisiert und aktenweise bewältigen zu können. Da diese Verrechtlichung des historischen Unrechts zu neuem bürokratisch begründetem Unrecht führte, konnte daher auch keine Vergangenheit, sondern nur die jeweils gegenwärtige und aktenkundig gemachte Bürokratie bewältigt werden. Insgesamt ist diese auf umfangreichen Fallbeispielen beruhende Studie Jedem zu empfehlen, der sich für die Verwaltungspraxis in der Geschichte deutscher Wiedergutmachungspolitik unter sich wandelnden rechtlichen Zwängen des Verwaltungsalltags seit 1945 interessiert.

*Der allgemeine Verschuldensvorwurf ist Anspruchsvoraussetzung im zivilrechtlichen Schadensersatzverfahren, während im Strafrecht der Schuldvorwurf eine festzustellende Strafbarkeitsvoraussetzung ist.

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